Vodou-Initiation
 

   
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Bei meinem letzten Aufenthalt in Haiti stellte Papa Sovè mir eine Aufgabe, um die Welt der Loa plastischer für mich werden zu lassen. Er führte mich vor einen Baum und sagte, ich solle ihn mir genau betrachten, denn so wie er aussehe, könne ich mir die Welt der Loa vorstellen.
Als ich ihn fragend anschaute, erklärte er, dass ebenso wie die Zweige und Äste in ihrer Gemeinsamkeit den Baum bilden, so fügen sich die Loa zum höchsten  Wesen. Dies sei aber noch nicht alles, denn die Menschen hätten auch ihren Platz an diesem Baum. Sie seien die Blätter, die den Baum ernähren. So lebe der Baum nicht ohne die Blätter und die Blätter nicht ohne den Baum.
Die Aufgabe sei nun, einen Baum zu zeichnen, durch den der Zusammenhang und die Verbindung der Loa deutlich würden und es dürfe keiner der 401 Loa fehlen oder am falschen Platz sein. Mir war klar, dass die Zahl 401 dabei  als symbolische Größe zu verstehen ist und damit nicht gemeint war, dass es nicht noch mehr sein können, zumal neue Loa hinzukommen, je breiter sich die menschliche Erfahrung auffächert. Sagt man doch im Vodoun, dass die „Seelen“ der Menschen nach dem Tod in einen großen See kommen, darin verschmelzen und dann entsteigt dem See wieder ein Loa, der die Erfahrungen all dieser Seelen in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Trotzdem war mir bewusst, dass das Anliegen, einen Baum mit 401 Loa zu zeichnen, ernst gemeint war.
Ich antwortete spontan, dass dazu niemand in der Lage sei. Da lachte er und meinte, der einzige, der das hier könne, sei ich, denn von keinem Schwarzen in Haiti könne ernsthaft verlangt werden, so penibel zu zeichnen, wie das dazu nötig sei. Dazu würde schon ein Weißer gebraucht.
An den folgenden Nachmittagen hatten sich nun etliche Priester und Priesterinnen versammelt, die einen Loa-Namen nach dem anderen nannten, die Reihenfolge besprachen und zu Familien gruppierten. Dabei wurde viel gelacht und immer wieder Lieder gesungen, die ihnen  zu den einzelnen Loa einfielen.
Ivòn  und Lamèsi, die Töchter von Papa Sovè, schrieben eifrig mit und gaben mir schließlich einige voll gekritzelte Blätter mit dem Hinweis, jetzt könne ich mich an die Arbeit machen. Bleistifte, Radiergummi und einen großen Bogen weißes Papier bekam ich auch.

Obwohl der Bogen reichlich Platz bot, schien es mir unmöglich, die Aufgabe zu bewältigen, denn ich sollte ja nicht nur den Baum zeichnen, sondern hinterher sollte jeder lesen können, an welcher Stelle nun der jeweilige Loa zu finden sei.
Schließlich kam mir der rettende Gedanke, für jeden Zweig nur einen Strich zu machen. Die Buchstaben für die Namen würden dann wie Blätter wirken.
Als ich nach Stunden eifriger Arbeit den immer noch singenden Priestern die Arbeit zeigte, freuten sie sich und sagten: „Das hätten wir nie gekonnt.“
Zu Papa Sovè sagte ich: „Es sind keine 401 Namen sondern nur etwas mehr als zweihundert.“
Seine Antwort war: „Es ist auch nur die Vorderseite, den Rest machen wir ein anderes Mal.“
Da es weder ihm noch den anderen darum ging, tatsächlich das Vodoupantheon  bildlich festzuhalten, sondern nur darum, mein Verständnis zu fördern, wurde die Rückseite nie gezeichnet. Stattdessen ließ er mich die folgende Nacht unterhalb des Baumes schlafen und wünschte mir mit den Worten: „Der Baum, das bist Du selbst.“ eine gute Nacht.

 

 

 
 

 

 

 

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