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Am Nachmittag kamen wir in einen
weiteren Lakou und wieder wurden wir begrüßt, zuerst von einer Schar
halbnackter Kinder, die schreiend und winkend neben unseren Jeeps
herliefen. Einige schafften es sogar, sich irgendwie an ihnen
festzuklammern, um ein Stück mitzufahren, da wir auf den Holperwegen
nur langsam fahren konnten. Unter einem Sonnendach waren Tisch und
Bänke aufgestellt. Davor warteten die Alten auf uns. Sie forderten
uns auf, Platz zu nehmen und gaben uns zu essen und zu trinken. In
familiärer Atmosphäre wurde viel geredet und gelacht. Da aber
mehrere durcheinander redeten, gelang es mir kaum mitzubekommen, was
der Gegenstand der Unterhaltung war, ganz zu schweigen von den
offenbar vorhandenen Pointen, die immer wieder Gelächter auslösten.
Schließlich fand sich jemand, der uns
zu einem besonderen Platz führen sollte. Bald brachen wir auf und
einige Männer und Frauen aus dem Lakou schlossen sich uns an. Wir
folgten einem langsam ansteigenden Pfad vorbei an zwei kleinen
Hütten, neben denen weiße Wäsche auf der umliegenden Wiese zum
Trocknen und Bleichen auf dem Gras ausgebreitet lag.
Dann wurde die Steigung steiler und der
Pfad schmaler. Er schien in einem Gebüsch zu enden. Unser Führer bog
einige Zweige zur Seite, und wir erkannten den Eingang einer Höhle.
Sie war anfangs nicht ganz dunkel, weil durch einige höher gelegene
Spalten Licht eindrang. Durch den vorderen Bereich floss Wasser, und
Lamèsi sammelte davon in einen Krug. Schließlich stimmte sie Lieder
für die Loa an, und wir alle sangen an diesem Platz, dessen
Bedeutung ich noch nicht kannte. Papa Sovè zündete eine Fackel an,
ging mit mir in den hinteren Bereich und wies nach der Höhlendecke.
Das Gestein war seltsam geformt, als wälzten sich unzählige
Schlangen im Liebestaumel. Ich verstand, dass dies ein Platz für
„Damballah“ und „Aida“ war, den Loa, die in Schlangengestalt unser
Universum hüten und beschützen. Papa Sovè brachte ein Trankopfer
dar und reichte mir den Krug, damit ich es ihm gleichtun konnte.
Dann gingen wir wieder zu den anderen. Inzwischen hatte einer zu
erzählen begonnen, und mir dämmerte die Erkenntnis, wo wir uns
befanden. Dies war die Stelle, an der sich zweihundert Priesterinnen
und Priester zusammengefunden hatten, um den Aufstand zur Befreiung
zu verabreden. Dies war die Höhle im Boa Kaiman, der legendäre
Platz, von dem aus die Befreiung ihren Ausgang genommen hatte. Man
spürte den Erzählenden die Berührtheit an und den Stolz, den sie für
ihre Vorfahren verspürten. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie
sich hier die Priesterinnen und Priester zusammengedrängt hatten, um
alle Platz zu finden. Welche Redewechsel mag es hier gegeben haben?
Welche Zeremonien waren gefeiert worden? Welche Loa hatte man um Rat
gefragt, bis die Menschen den Mut und die Kampfbereitschaft
entwickelt hatten, das fast Aussichtslose zu wagen und für ihre
Freiheit gegen die Übermacht der Weißen zu kämpfen?
„Der Kampf ist nicht zu Ende“, sagte
plötzlich Ivòn, „ und muss täglich neu gekämpft werden, wenn auch
mit anderen Mitteln. Seit Ankunft der Schwarzen als Sklaven bis
heute versuchte man uns zu erdrücken und oft erscheint die
Unterdrückung im verführerischen Gewand von Hilfe, nach der wir
nicht gefragt haben.“ Andere stimmten zu und berichteten von
Übergriffen von Weißen, die zuerst Hilfe anböten, dann aber über
alles bestimmen wollten. Eine Priesterin empörte sich vor allem
darüber, was den Kindern in den Schulen beigebracht würde. „Es wird
ihnen nur erzählt, wie dumm ihre Eltern seien und was wir alles
falsch machen. Als Beispiel muss dann immer Vodoun herhalten.
Niemand versucht zu verstehen, was wir machen. Wir sollen nur
diejenigen sein, die verstehen, was andere tun!“
Die Leute redeten weiter darüber, wie
sie sich wehren müssten, damit sie ihre Kultur leben könnten, und es
wurde die Leidenschaft zur Freiheit deutlich, die auch schon damals
die Menschen beseelt hatten.
Schließlich machten wir uns wieder auf,
denn das Ziel für diesen Tag war noch nicht erreicht. Papa Sovè
hatte mir erzählt, dass wir noch die Zitadelle besuchen wollten, das
größte je in Haiti errichtete Gebäude, das als Weltkulturerbe gerade
restauriert worden war. Es war eine Verteidigungsanlage, in der bis
zu fünftausend Soldaten Platz gefunden hatten.
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